Wir alle kennen es. Der Tag war lang, wir hatten Stress in der Schule oder der Arbeitskollege hat uns etwas zu sehr genervt. Nichts wie nach Hause und ab in den Stall! Auf dem Weg dorthin werden die Nerven auch noch ganz besonders von den anderen Verkehrsteilnehmern strapaziert und man schafft es gerade noch rechtzeitig zum Stall bevor der abendliche Ansturm beginnt. Schließlich wird es wieder früher dunkel und die Aktivitäten, denen man mit seinem Pferd bei Tageslicht nachgehen kann, sind begrenzt. Also keine Zeit verlieren, das Pferd rasch aus der Box oder von der Koppel geholt, schnell drüber geputzt und in den Sattel geschwungen…

Moment.

Nun möchten wir dich einladen, ganz bewusst innezuhalten und nachzudenken, ob dir diese Situation vielleicht ein bisschen bekannt vorkommt. Jeder einzelne von uns hat sie zumindest teilweise schon mal erlebt. Wir machen uns auf den Weg zum Stall, um Zeit mit unserem Pferd zu verbringen und um dem „Rest der Welt“ für eine kurze Zeit zu entfliehen. Wie oft passiert es aber, dass wir trotz bester Vorsätze den Stress des Tages mitbringen, beim Putzen vom Plausch mit der Stallkollegin abgelenkt werden oder das Stallradio auf voller Lautstärke dröhnt während wir eigentlich vorhatten, qualitativ hochwertige Zeit mit unserem Pferd zu verbringen? 

Quality-Time, ein oft falsch verstandenes Konzept

Viel zu oft erreichen wir den Stall mit dem Gefühl zu „müssen“. Das Pferd muss bewegt werden, wir müssen uns an den Trainingsplan halten, wir müssen in zwei Stunden wieder weiter, damit wir es noch rechtzeitig zum Supermarkt schaffen, weil wir mal wieder vergessen haben Lebensmittel zu kaufen. Keine Zeit zum Durchatmen. Diese konstante Erwartungshaltung an uns selbst, ein ständiges Funktionieren-müssen übertragen wir ganz automatisch und unbewusst auf unser Pferd. 

Dein Pferd spürt deine Gemütslage, es erkennt am Klang deiner Stimme und an der Art wie du dich bewegst, wenn du es von der Koppel holst, ob du gestresst, traurig oder fröhlich bist. Egal welche Emotionen es von dir empfängt, dein Pferd wird sie auffangen, ein Stück-weit auf sich beziehen und sein Verhalten dir gegenüber entsprechend anpassen. Wir möchten dir heute näher bringen wie du die Bindung zu deinem Pferd durch die alltägliche Handlung des Putzens stärken kannst und welche positiven Auswirkungen dieses Ritual auf euch beide haben kann.

Quality Time, oder qualitativ hochwertige Zeit, muss nicht immer über das Erreichen eines Trainingsziels oder einen langen Ausritt definiert werden. Oft ist es einfach ein Moment der Stille, des Innehaltens und die bewusste Entscheidung seinem Pferd Zeit und ungeteilte Aufmerksamkeit zukommen zu lassen. 

Das Akronym ASMR steht für Autonomous Sensory Meridian Response und bezieht sich auf das „Grooming“ oder gegenseitige Fell/Körperpflege. Dieser Vorgang generiert bei Pferden einen euphorischen Lustgewinn, die kreisenden Bewegungen beim Putzen von Menschenhand lösen wohlige Gefühle im zentralen Nervensystem aus und befreien von Schmerz und Stress. Die Atmung wird ruhiger, die Augenlider schwer, der ganze Körper entspannt sich. Oft kann man auch beobachten, dass ein Pferd beim Putzen genießerisch abschnaubt oder einen Hinterhuf entlastet.

ASMR ist ein relativ neues revolutionäres Forschungsgebiet, welches seit 2010 genauer unter die Lupe genommen wird. Laut aktuellen Ergebnissen kann dadurch das Zentrale Nervensystem (Gehirn und Rückenmark) in einen Zustand absoluter Ruhe „a flow-like mental state“ versetzt werden, welcher der sonst durch den Einsatz von Opioiden, Hypocretin und Orexin erreicht werden kann. Der Zustand bei einem perfekten Tag, bei einem absoluten Hochgefühl oder auch bei sexueller Erregung.

ASMR löst ein zentralnervös gesteuertes Dermal Gefühl aus, das Cranium-dominant geführt und gestartet wird. Es sorgt für ein kribbelndes Gefühl auf der Kopfhaut, für eine messbare Spannungszunahme der Haut entlang des Nackens, sogenannte „Tingles“.

Positive Tingles werden ausgelöst durch folgende Trigger:

  • Geräusche durch kutane Reibung, z. B. durch Streichung der Handinnenflächen wie Effleurage, Petrissage, Coupage
  • Lippen-Streichen, Geräusche der Mundöffnung (z. B. das Mund ploppen des Fisches)
  • Tiefe, flüsternde, ruhige Stimmlagen
  • Ruhige, sanfte Bewegungsmuster der Hände wie Reiki, Streicheln, Massage
  • Sanfte, bestätigende, beschützende leichte Berührungen des CCÜ (Pflegen, Kämmen)
  • Geräusche, die beim Ausstreichen von Fell oder Behaarung entstehen

Obwohl die Erforschung von ASMR noch lange nicht beendet sind, scheint das Phänomen der Synästhesie die Ursache von ASMR zu sein! Synästhesie heißt vereinfacht: Ein Sinn steuert andere Sinne … Warme Farbe, lauter Duft … Das verändert die sensorische Wahrnehmung. Im Areal der Lamina Quadrigemina (Vierhügelplatte) des Mesencephalon werden affektive Erregungsmuster generiert, ohne, dass sich der Patient bewusst darauf einlassen muss. Dies ist also auch ganz klar von einer Meditation abzugrenzen, denn das Unterbewusstsein, das Gehirn reagiert automatisch.

Vielleicht hast du ja selbst schon einmal bemerkt, dass deine Atmung ruhiger wird, während du dein Pferd putzt. Vielleicht entkrampft sich dein Nacken oder du entspannst die Kiefermuskeln, da die rhythmischen Bewegungen des Bürstens auch einen beruhigenden Effekt auf dich haben.

Das Phänomen ASMR kann dir helfen, die Bindung zu deinem Pferd zu stärken, loszulassen vom Gefühl zu „müssen“ und für euch beide eine kleine Oase der Ruhe im Alltags- und Stalltrubel schaffen.

Sind dir beim Putzen schon einmal positive Veränderungen in deinem Verhalten oder dem Verhalten deines Pferdes aufgefallen? 

Wie immer freuen wir uns darüber zu lesen und sind gespannt auf eure Kommentare per E-Mail oder auf Instagram! 

Deine

Vicky Hollerbaum

Wenn du Fragen hast, freue ich mich über deine E-Mail!